Entscheidung Brandenburgisches Oberlandesgericht vom 07.05.2020

„Quotenverteilung zwischen zu schnellem Geradeausfahrer und entgegenkommenden Linksabbieger“, veröffentlicht in „Die Verkehrsanwältin“ (DV) 4/2020, S. 167

Sachverhalt:
Der damals 24-jährige Kläger befuhr im September 2015 mit seinem Motorrad Suzuki eine geradeaus verlaufende und gut einsehbare Straße in Forst mit überhöhter Geschwindigkeit. Diese lag laut unfallanalytischem Sachverständigengutachten bei mindestens 93 km/h, kurz vor der Kollision bei mindestens 86 km/h. Ihm entgegen kam die Beklagte zu 1. mit dem Pkw VW Polo. Als diese nach links in eine Grundstückseinfahrt abbog, kollidierte sie mit dem entgegenkommenden Kradfahrer (Kläger), wodurch dieser stürzte und schwer verletzt wurde. Der Kläger hat vor der Kollision noch versucht, abzubremsen und dem Pkw auszuweichen. Letzteres gelang ihm nicht mehr, weshalb er gegen das Heck des bereits querstehenden Pkws fuhr. Der Kläger erhob Klage auf Zahlung von anteiligen Schadensersatz und Schmerzensgeld sowie auf Feststellung der Verpflichtung zur Übernahme von zukünftigen Schäden beim Landgericht Cottbus (Az.: 2 O 147/17). Das Landgericht wies die Klage vollständig ab. Es sah in der überhöhten Geschwindigkeit des Klägers eine so erhebliche Pflichtverletzung, sodass ein Mitverschulden der Beklagten zu 1. an dem Unfall verneint und zudem die Betriebsgefahr des Pkw VW zurückgestellt wurde.

Mit der Berufung beim Brandenburgischen Oberlandesgericht verfolgte der Kläger seine erhobenen Ansprüche weiter und konkretisierte die Haftungsquote auf 50/50. Das Brandenburgische Oberlandesgericht änderte die Entscheidung des Landgerichts Cottbus ab und verurteilte die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld und verpflichtete die Beklagten auch zur Zahlung von zukünftigen Schäden mit einer Quote von 30 %. Das Urteil ist rechtskräftig.
Dazu führt das Brandenburgische Oberlandesgericht im Urteil aber auch bereits im vorausgehenden ausführlichen Beschluss zur PKH-Gewährung u. a. aus:

„Der Kläger kann von den Beklagten mit Erfolg Ersatz i.H.v. 30 % des ihm infolge des Unfalls vom 24.09.2015 entstandenen und noch entstehenden Schadens aus den §§ 7 Abs. 1, 17, 18 Abs. 1 S. 1, 11 S. 2 StVG bzw. den §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB jeweils i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG verlangen.

Keine der Parteien hat den Nachweis erbracht, dass der Unfall für sie ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG gewesen ist. Somit hängt die Haftungsverteilung im Rahmen der nach § 17 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 StVG vorzunehmenden Abwägung davon ab, inwieweit der Schaden überwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist, wobei jede Partei dem anderen Teil einen als Verschulden anzurechnenden Umstand oder andere, dessen Betriebsgefahr erhöhende Tatsachen nachzuweisen hat (vgl. BGH NZV 1996, 231). Im Streitfall führt die Abwägung zu einer Haftungsverteilung von 70:30 zu Lasten des Klägers, da der Kläger durch seinen schuldhaften Verstoß gegen § 3 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 StVO den ganz überwiegenden Verursachungsbeitrag gesetzt hat, indem er unstreitig mit einer Ausgangsgeschwindigkeit von mindestens 93 km/h statt der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h fuhr und damit die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mindestens 86 % überschritten hat.

Auf Seiten der Beklagten ist ein Verstoß der Beklagten zu 1 gegen § 9 Abs. 3 StVO und § 9 Abs. 5 StVO zu berücksichtigen. Nach § 9 Abs. 3 StVO hatte die Beklagte zu 1 entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren zulassen. Der Kläger hat das ihm nach dieser Vorschrift zustehende Vorrecht nicht dadurch verloren, dass er mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr (vgl. BGH NJW 1984, 1962; BGH NJW 2003, 1929, KG KGR 2001, 42; OLG Koblenz NJW-RR 2004, 392; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 44. Aufl. § 9 StVO Rn. 39). Zudem traf die Beklagte zu 1 die gesteigerte Sorgfaltspflicht aus § 9 Abs. 5 StVO, wonach beim Abbiegen in ein Grundstück eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen werden muss. Die Beklagte zu 1 hat im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht eingeräumt, das Motorrad des Kläger in der Ferne wahrgenommen zu haben. Nach den Feststellungen des im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren beauftragten Sachverständigen, die von den Parteien nicht infrage gestellt werden, war der Kläger noch etwa 140 m entfernt, als die Beklagte zu 1 ca. 4,5 Sekunden vor der späteren Kollision mit dem Abbiegevorgang begann. Als die Beklagte zu 1 mit der vorderen linken Fahrzeugecke ihres Pkws die Leitlinie zwischen den Fahrspuren um nur 60 cm überfahren hatte, hatte sich der Kläger bereits aufgrund seiner hohen Annäherungsgeschwindigkeit bis auf ca. 63 m an die spätere Kollisionsstelle angenähert. Daraus folgt, dass die überhöhte Geschwindigkeit des Klägers für die Beklagte zu 1 durchaus erkennbar war. Die Beklagten haben auch nicht geltend gemacht, dass die Beklagte zu 1 die überhöhte Geschwindigkeit des Klägers nicht habe einschätzen und sich nicht darauf habe einrichten können. Mit einer nicht nur unerheblichen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit muss der Wartepflichtige grundsätzlich ohnehin rechnen; Schätzungsfehler über die Geschwindigkeit des entgegenkommenden gehen zu seinen Lasten (vgl. BGH NJW 1984, 1962; KG a.a.O.). Im Streitfall kommt hinzu, dass es sich nach den Feststellungen des Sachverständigen und den seinen Gutachten beiliegenden Lichtbildern bei der Unfallörtlichkeit um ein übersichtlich ausgebautes und gradlinig verlaufenes Straßenstück ohne unmittelbar angrenzende Randbebauung handelt, das aufgrund seiner Beschaffenheit zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h verleiten kann, so dass eine Geschwindigkeitsüberschreitung auch für den ortskundigen Verkehr nicht völlig überraschend ist.

Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Landgerichts tritt eine Haftung der Beklagten bei der vorzunehmenden Abwägung nicht vollständig hinter dem weit überwiegenden Verursachungsbeitrag des Klägers zurück. Zwar kommt dem schuldhaften und grob verkehrswidrigen Verkehrsverstoß des Klägers aufgrund der Überschreitung der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit in leichtfertiger Weise von mindestens 86 % besonderes Gewicht zu, während das Verschulden der Beklagten zu 1 geringer in Ansatz zu bringen ist. Eine vollständige Haftung des Klägers käme jedoch nur in Betracht, wenn die Beklagte zu 1 ihn vor Beginn des Abbiegevorganges überhaupt nicht hätte wahrnehmen können und es allein wegen der Geschwindigkeitsüberschreitung um 100 % oder mehr zu einem Unfall gekommen wäre. Diese Fallgestaltung, die hier nicht vorliegt, lag auch der von der Beklagtenseite zitierten Entscheidung des OLG Saarbrücken (Zfs 2003, 5379) zu Grunde. Auch kommt dem Bremsverhalten des Klägers in diesem Zusammenhang nach Erkennen der Gefahrensituation keine eigenständige Bedeutung in Form eines zusätzlichen Verkehrsverstoßes zu. Nicht zu Unrecht weist der Kläger zudem darauf hin, dass im Rahmen der Abwägung auch zu berücksichtigen ist, dass die Beklagte zu 1 die gesteigerten Sorgfaltspflichten des § 9 Abs. 5 StVO trafen. Da auch die Betriebsgefahren der beteiligten Fahrzeuge aufgrund des erhöhten Gefahrenpotenzials etwa gleich zu bewerten sind, erscheint dem Senat im Streitfall eine Haftungsverteilung von 70:30 zu Lasten des Klägers angemessen. Die von dem Kläger in der Berufungsinstanz begehrte Quote von 50:50 wird hingegen den gegenseitigen Verursachungsbeiträgen nicht gerecht.“

Auf die Begründung im PKH-Beschluss bezieht sich auch überwiegend das Urteil. Dort wird lediglich nochmals klargestellt, dass die Betriebsgefahr eines abbiegenden Kraftfahrzeuges auch dann nicht vollständig zurücktritt, wenn das entgegenkommende Fahrzeug die zulässige Höchstgeschwindigkeit deutlich überschreitet. Diese Betriebsgefahr des Pkw VW Polo sowie der Verstoß der Pkw-Fahrerin gegen die Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO (Abbiegen in ein Grundstück) ergab beim Brandenburgischen Oberlandesgericht eine Mithaftungsquote von 30 %.

Rechtsanwalt Geßler
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Arbeitsrecht